Suede – „Autofiction“

© Dean Chalkley

Angesichts der Entstehungsgeschichte dieses Albums, dürfte es nicht allzu sehr überraschen, dass „Autofiction“ das Punk-Album von Suede ist - eine Platte, auf der eben jenes ausgelassene, ja fast übermütig lodernde Feuer knistert, das jedem vertraut ist, der die Band in den letzten Jahren live gesehen hat. Mit dem Probenstart der neuen Songs - einiger der druckvollsten und zugleich direktesten in Suedes Karriere, begann ein Prozess der Rückbesinnung auf die ursprünglichen Grundlagen und man beschloss, wieder wie eine Newcomer-Band zu werden. Brett Anderson, Mat Osman, Simon Gilbert, Richard Oakes und Neil Codling begaben sich also in einen Proberaum im verlassenen Kings Cross und damit auf die Spuren ihrer eigenen anfänglichen Tage als unbekannte Band aus London – sie mussten selbst den Schlüssel organisieren, ihr eigenes Equipment schleppen und aufbauen, um dann mit den Proben beginnen zu können. Nach der Trilogie der Post-Reformations-Alben, die Suede nicht nur als überaus dynamische kreative Kraft zementierte, sondern ihr auch den Ruf als Band einbrachte, die die Musiklandschaft der 90er Jahre für immer veränderte, wollte man die „vierte Phase" ihres Bestehens mit einem Album beginnen, das, wie Brett Anderson den Philosophen Thomas Hobbes aus dem 17. Jahrhundert zitierte, „fies, brutal und kurz" war.

 

Während sie auf dem 2018er-Album „The Blue Hour“ mit unter anderem ‚field recordings‘, gesprochenen Lyrics oder auch Instrumental-Sequenzen in den Songs noch am experimentellsten waren, bekamen Suede mehr und mehr den Eindruck, dass sie diese schottrige Landstraße so weit wie ihnen nur möglich gegangen waren. „Wir wollten einfach keine verkopfte Musik mehr machen", sagt Brett Anderson, „‚The Blue Hour‘ ist absichtlich ein wenig obskur, was letztlich brillant ist, denn es gibt dir etwas, von dem du zurückkommen kannst.“ Suede wollten einerseits eine Art Reaktion auf „The Blue Hour“ schreiben, die genauso scharfsinnig war wie der Sprung vom grandiosen „Dog Man Star“ zu „Coming Up“, hatten aber anderseits auch das Gefühl, dass es nach zwei hochgelobten Dokumentarfilmen (Mike Christies „The Insatiable Ones“ für Sky Arts und BBC Four's „Rock Family Trees“), den ‚klassischen Alben', Greatest Hits-Touren und dem nahenden 30-jährigen Jubiläum der Debütsingle „The Drowners“ an der Zeit war, nach vorne zu schauen.

 

Suedes Ziel für ihr neuntes Studioalbum war es, etwas zu kreieren, das die Kraft der Band widerspiegelte, die sie bei Live-Auftritten entwickeln - etwas, das sie ihrer Meinung nach im Laufe ihrer 30-jährigen Karriere nicht geschafft haben. „Es stellt sich eine seltsame Trägheit im Studio ein, so dass es oft nur noch um das Mikroskopische, die Technik und die Musikalität geht, und das ist etwas, was ich wirklich aus dem Weg räumen wollte", erklärt Anderson. „Es war ein Versuch, den ganzen Dreck und den Lärm und die Naivität einer Live-Band zu erzeugen und das einzufangen." Die Band ist regelrecht begeistert von den beinahe „rituellen" Energien, die bei Gigs zwischen der Band und dem Publikum herrschen. Mat Osman beschreibt sie als eine Art „Massenhalluzination" und Anderson als „eine Lizenz zum Wahnsinn, den Moment einer ganz instinktiven Verbindung".

 

Und im Versuch, etwas von dieser unheiligen Magie einzufangen, hatten Suede ursprünglich sogar die Idee, das „Zurück zu den Wurzeln"-Prinzip auf die Spitze zu treiben und Gigs unter falschem Namen zu spielen.

 

Osman scherzt sogar, dass sie überlegt hatten, an Band-Wettbewerben teilzunehmen oder ein paar Fans ins Studio einzuladen und sie dabei aufzunehmen, während man ihnen ein Set brandneuer Songs um die Ohren haut. Letzten Endes waren es die Umstände, die zu einer Änderung dieser Pläne führten, und da quasi immer wieder neues Material auftauchte, wurde das Album in der ursprünglichen Version erst einmal wieder auf Eis gelegt.

 

Es ist eine wilde Platte geworden, die zwar nicht wie die wilden frühen Singles von vor 30 Jahren klingt, aber dennoch viel von der gleichen hungrigen Energie in sich trägt. Richard Oakes schwärmt davon, wie Simon Gilbert diesen Vibe immer wieder vorangetrieben hat: „Schlagzeugspielen ist für ihn eine instinktive, euphorische Sache, er muss fühlen können. Im Herzen ist er ein Punk und er liebt alles, was direkt ist, er spielt mit seinem Körper und seinem Herzen". Es war die schäbige Intimität des Studios, die letztlich verhinderte, dass die ursprünglichen Pläne, live oder vor den Fans aufzunehmen, nicht umgesetzt wurden. „Die Songs sind ziemlich thrashig und es ist einfach aufregend, sie zu spielen", sagt Osman, „manchmal werden die Songs beim Aufnehmen zu einem Puzzle, das man lösen muss, aber dieses Mal war es anders - es ging einzig darum, die beste Performance herauszuholen. Es ist eine sehr physische Platte - die letzten beiden waren eher zerebral und emotional, aber diese hier ist eine Explosion von Lärm. Alle paar Jahre willst Du einfach diesen Nervenkitzel, eine fröhliche Rock'n'Roll-Platte zu machen.“

 

Nach „Night Thoughts“ und „The Blue Hour“, die sich mit den Ängsten und Sorgen des Elternwerdens auseinandersetzten, ist „Autofiction“, wie der Titel schon andeutet, eines von Brett Andersons bisher persönlichsten Alben. Wenn er jetzt darüber nachdenkt, sagt er, dass der Prozess des Schreibens der gefeierten Memoiren „Coal Black Mornings“ und „Afternoons With The Blinds Drawn“ ihm geholfen hat, eine Perspektive auf sich selbst als Künstler und Sänger in der Öffentlichkeit zu bekommen. „Bei ‚Afternoons With The Blinds Drawn‘ ging es vor allem darum, sich mit der Person Brett Anderson auseinanderzusetzen und sie zu erkennen", sagt er. „Ich fand es faszinierend zu schreiben, weil ich mich auf die Weise mit vielen Dingen beschäftigt habe, mit denen ich mich zu der Zeit noch nicht befasst hatte." Er räumt ein, dass er jahrelang gezögert hatte, sich einzugestehen, dass es eine solche Persona gab, bis er in der Lage war, Abstand davon zu gewinnen. „Es war wirklich interessant, all diese mentalen Mechanismen zu entdecken, die ablaufen, wenn man in einer Band ist", sagt er. „Ich habe versucht, es als eine wirklich ehrliche Beobachtung dessen zu schreiben, was mir passiert ist, als ich durch diese Maschinerie des Ruhms ging."

 

Auch das ist natürlich in die Lyrik von „Autofiction“ eingeflossen, die Anderson zeigt, wie er sich auf einmal damit konfrontiert sieht, ein halbes Jahrhundert auf dem Buckel zu haben. „Ich fühle mich nicht mehr jung, ich habe viel mehr Probleme", gibt er zu. „Ich will mich nicht als Opfer sehen, aber die 50er fühlen sich ganz anders an als die 40er. In den 40ern fühlte ich mich immer noch jung, und ich denke, ich wollte mir einige dieser Ängste näher anschauen. Und so befassen sich Songs wie ‚Personality Disorder' und ‚Shadow Self' mit der dunklen Seite dessen, was es heißt, ein 50-jähriger Mensch zu sein."

 

War vor 30 Jahren noch „The Drowners" die aufrüttelnde Hymne auf die verschwommene Sexualität und Lebendigkeit einer ungewöhnlichen Jugend, so kommt auch die Auseinandersetzung von „Autofiction“ mit den Problemen eines anderen Lebensabschnitts nicht weniger lebendig und essentiell daher. „Es fühlt sich für mich wie etwas ganz Neues an", erklärt Brett Anderson. „Ich habe die ersten drei Platten immer als eine Art Trilogie betrachtet, und die letzten drei auch. ‚Autofiction‘ hat eine ganz natürliche Frische - das ist der Punkt, an dem wir sein wollen." Und wo Suede sein wollen, ist in gewisser Weise derselbe Ort, an dem sie vor 30 Jahren angefangen haben - eine Gruppe von Leuten, die von dem Gefühl leben, in einem Raum Lärm zu machen. „Als wir probten und diese Platte schrieben und Sachen wie ‚15 Again' spielten, war es dieser pure, physische Rausch. Es erinnerte mich an (die frühe Suede B-Seite) ‚Painted People' oder so, diese Sache, bei der du um dein Leben kämpfst", sagt Mat Osman. „Es spricht viel dafür, ab und zu einfach mal einen Neustart zu machen und sich daran zu erinnern, was so toll daran ist, in einer Band zu sein."
VÖ: 16. September 2022 via BMG
https://www.suede.co.uk/

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